Pre-published Papers: Eine neue Publikationspraxis aus sicherheitswissenschaftlicher Sicht


Durch die Vorabpublikation von wissenschaftlichen Beiträgen auf dafür eingerichteten Plattformen können sowohl fachliche Debatten erweitert und beschleunigt, die Macht von Verlagskonglomeraten gebrochen als auch die Tendenz zu Hermetik und schmal dosierten Fachartikeln unterlaufen werden. Gleichzeitig steigt die Gefahr, dass Qualitätsstandards sinken sowie Spekulation und Sensationalismus an der Schnittstelle zwischen Fachpublikationen und Wissenschaftsjournalismus wegen der relativ größeren Unsicherheit von prä-publizierten Ergebnissen und dem gleichzeitigen Zuwachs eines Marktes unseriöser Zeitschriften überhandnehmen. Die GfS fordert deshalb auf die Konsequenzen hin ausgerichtetes Denken und verantwortliches Handeln aller Beteiligten.

Die Corona-Krise hat in einigen Bereichen des öffentlichen Lebens bereits Veränderungen bewirkt, auch im Wissenschaftsbetrieb. Die U.S.-amerikanische Nobelpreisträgerin von 2020, die Biochemikerin und Molekularbiologin Jennifer Doudna bezifferte Anfang Juni die Zahl der täglich erscheinenden Forschungsbeiträge zu Covid-19 auf über hundert. Allerdings erschienen diese Erträge in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht in den etablierten und für die Bibliotheken sehr teuren Fachzeitschriften, sondern im „prepublished“-Modus: Eingereicht bei einer Fachzeitschrift, aber noch im – oft langwierigen – Prozess der Begutachtung, stellen die beteiligten Fachwissenschaftlerinnen ihre Ergebnisse vorab auf einem sogenannten Pre-Print Server ein. Bis zum 10. Juli summierten sich die für die Forschung an Covid-19 auf den Preprint-Servern der Mediziner (medRxiv) und der
Biologen (bioRExiv) eingestellte Beiträge auf 6.289.

Diese hochfrequente Publikationstätigkeit signalisiert mehrere Entwicklungen. Es sieht so aus, als würden in der Krise gleich zwei Tendenzen zeitweise ausgesetzt, wenn nicht gar überwunden, die in der Vergangenheit zunehmend Schwierigkeiten bereitet hatten: zum einen die mit den Finanzierungs- und den Hierarchieproblemen des Wissenschaftsbetriebs
zusammenhängende Zögerlichkeit, eigene Daten und Ergebnisse anderen zugänglich zu machen, bevor sie möglichst gewinnbringend ausgewertet sind – in den bestrenommierten Zeitschriften, im Hinblick auf weitere Fördergelder oder für die Absicherung oder Erreichung von angesehenen und/oder lukrativen Positionen. Zum anderen das Bemühen, aus
Forschungsergebnissen möglichst viele Publikationen zu machen – eine Tendenz zur kleinsten publizierbaren Einheit, die den Überblick über größere Zusammenhänge erschwert.

Die Geschwindigkeit und Bereitwilligkeit, mit der nun Ergebnisse prä-publiziert werden, weist über die erforfderliche Dringlichkeit einer wissenschaftsbasierten Einschätzung der Krisenlage hinaus. Potentiell könnte das die Marktmacht der Publikationskonglomerate aushebeln. Dass aus Fördergeldern finanzierte Forschungsergebnisse unentgeltlich einer kleinen, den Markt beherrschenden Oligarchie von Verlagen zur Verfügung gestellt werden, die diese Ergebnisse dann teuer an den Wissenschaftsbetrieb zurückverkaufen, stand schon länger in der Kritik.

Die Lösung sollten vermehrte Publikationen in Open Access – Zeitschriften und auf entsprechend qualitätsgesicherten Plattformen sein. Qualitätssicherung durch Peer Review, also die Begutachtung von eingereichten Artikeln aus der Fachgemeinschaft heraus, hatte sich insbesondere in den Naturwissenschaften und zunehmend auch in den Ingenieur- und Sozialwissenschaften durchgesetzt. Das Gedränge zu den Fachzeitschriften mit hohem Impact-Faktor, der erschienenen Artikeln quasi garantiert, dass sie in der Fachgemeinde gelesen und auch wieder zitiert werden, ist entsprechend stark.

Für Wissenschaftsjournalisten schien dieser Prozess die Arbeit zu vereinfachen: Was in einem renommierten Fachjournal erschien, war mit wenigen Ausnahmen belastbares Ergebnis oder wenigstens eine brauchbare Hypothese. Allerdings hat sich in der jüngeren Vergangenheit gezeigt, dass sich unter den zahlreichen Zeitschriften mit wissenschaftsaffinen Titeln ein grauer Markt etabliert hatte. Dieser macht sich den nach wie vor bestehenden Druck zur publikationsgestützten Sichtbarkeit – gerade für Nachwuchskräfte – zu Nutze und fordert von den Autoren Geld, bevor abgedruckt wird. Einige andere Fachblätter, darunter sogar manche, die im Rahmen von Aufkäufen unter das erweiterte Dach eines der Verlagskonglomerate gekommen waren, publizierten vorrangig Schriften der Herausgeber und mit ihnen verbundener Wissenschaftler. Auch wenn es sich dabei um Einzelfälle gehandelt haben mag, erschwerten sie den Überblick speziell für nicht hoch spezialisierte Wissenschaftsjournalisten schon vor der derzeit blühenden Unüberschaubarkeit. Forschungseinrichtungen und Individuen haben zwar immer noch viel zu verlieren, sollten sich die in ihren Vorabpublikationen aufgestellten Behauptungen letztlich nicht belegen und die Ergebnisse bestätigen lassen, aber der zeitliche Druck und der – verständliche – Impuls, als Erste zu Ergebnissen zu kommen, hat schon einige Probleme gezeitigt. Des Weiteren findet durch die Masse der Veröffentlichungen eine Überflutung mit Informationen in kurzer Zeit statt, die eine präzise und verlässliche Würdigung der Beiträge kaum noch zulässt. Hinzu kommen bewusste Störversuche durch interessierte Parteien, die diese Sachlage gezielt ausnutzen, um Verwirrung zu stiften.

Vorsichtiger formulierte Forschungsergebnisse treffen nicht auf das gleiche Medieninteresse, eben so wenig wie die für die Absicherung von Erkenntnissen sehr wichtigen Replikationsstudien. Dabei müsste klar sein, dass nur auf solider Datenbasis abgesicherte Ergebnisse letztlich Bestand haben können. Zu schnelle Schlüsse auf der Basis dünnen oder fraglichen Datenmaterials werden, wie im Sommer 2020 mehrfach zu beobachten war, von anderen Wissenschaftsteams sofort angezweifelt. Im besten Fall führt das zu einem vor den Augen einer weiteren Öffentlichkeit geführten Peer ReviewProzess: Das passierte etwa dem bekannten Berliner Virologen Christian Drosten, der in einer Studie Statistiken zur Verbreitung des SARS Cov2-Virus verwendet hatte, die aus der Fachgemeinde heraus kritisiert wurden. Drosten zog daraufhin zurück und überarbeitete seinen Beitrag, der dadurch an Überzeugungskraft zulegte. Weniger positiv verlief die Debatte um den Einsatz zum Beispiel von Malariamitteln zur Behandlung von Covid-19 Erkrankungen. Da es keine Erfahrungen mit dem Virus gab und natürlich auch keine Medikamente, wurden bei anderen Krankheiten mit vergleichbaren Symptomen bewährte Mittel wie Hyrdoxychloroquin herangezogen. Dieses Mittel geriet schnell aus der medizinischen Diskussion in die politische Sphäre. Mit Bezug zu einer fragwürdigen Publikation haben die Präsidenten der U.S.A und Brasiliens dieses Mittel voreilig und öffentlichkeitswirksam beworben.

Im Zusammenhang politischer Lagerkämpfe können, wie der Fall Hydroxycloroquin zeigt, fachwissenschaftliche Forschung und nötige Überprüfungs- und ggf. Revisionsprozesse soweit aus der Diskursebene getragen werden, dass jede Stellungnahme sofort unter Ideologieverdacht gerät und unabhängige Forschung bzw. die Verbreitung ihrer Ergebnisse unmöglich wird. Gleichzeitig fördern spekulative oder durch die Medien sensationalitisch aufgebauschte Forschungsergebnisse überzogene Erwartungshaltungen, Enttäuschungen, und die Bereitschaft, unseriösen Diskursen und irreführenden Empfehlungen zu folgen.

Es ist deshalb aus Sicht der GfS von essentieller Wichtigkeit, dass aus der gegenwärtigen Situation vier Schlüsse gezogen werden:

  1. Die Öffnung des wissenschaftlichen Publikationsbetriebs in Richtung auf unabhängige Begutachtung und Open Access zu den Forschungsergebnissen ist sinnvoll und im Hinblick auf eine Qualitätssicherung und Demokratisierung des Wissenschaftsbetriebs notwendig.
  2. Ein wissenschaftlicher Publikationsbetrieb zum alleinigen Zweck der Profiterzielung wird abgelehnt: Er unterstützt die Bildung von Konglomeraten, verzögert die Bereitstellung von Forschungsergebnissen in Krisenlagen und befördert die Bildung von ‚grauen‘ Marktsegmenten.
  3. Die Einstellung von Vorabpublikationen muss ethisch verantwortbar und hinsichtlich der Konsequenzen überdacht sein.
  4. Von einem verantwortlichen Wissenschaftsjournalismus müssen ‚graue‘ Ergebnisse ignoriert und auch ernst zu nehmende Vorabpublikationen als Ergebnisse behandelt werden, deren Validität noch unter Vorbehalt steht. Der öffentlich geführte Peer-Review Prozess ist im Sinne einer Demokratisierung des Wissenschaftsbetriebs, in der es um unabhängige Bestätigung von Fakten geht, zu begrüßen; seine kritische Begleitung kann dazu genutzt werden, einer breiten Öffentlichkeit vorzuführen, dass es voneinander abweichende Forschungswege und Ergebnisinterpretationen gibt, dass aber das Recht auf freie Meinungsäußerung keine ‚alternativen Fakten‘ schafft.

Autoren (alphabetisch geordnet)
Dr. Sebastian Festag
Professor Dr. Wolfgang Hochbruck
Professor Dr. Ortwin Renn
Dr. Dr. Christian Rückerl

Kontaktdaten für das Thema
Professor Dr. Wolfgang Hochbruck
Abt. Nordamerikastudien/Englisches Seminar/Centre for Security and Society
Albert-Ludwigs-Universität
Rempart Str. 15, D-79098 Freiburg
Tel.: 0761/2033344
E-Mail: wolfgang.hochbruck@anglistik.uni-freiburg.de

Mitunterzeichner der Stellungnahme
Professor Dr. Sylvius Hartwig
Dipl.-Ing. Harald Hauff
Dr. Jürgen Hecht
Dipl.-Ing. Christoph-Johannes Kirchner
Professor Dr. Siegfried Radandt
Professor Dr. Dr. h.c. Juraj Sinay
Prof. Dr. Wolfgang Stoll

 

Über die GfS
Die Sicherheitswissenschaft geht über den allgemeinen Erkenntnisfortschritt weit hinaus, weil sie nicht nur die Gesetzmäßigkeiten mit Gefahren übergreifend erforscht und systematisiert, sondern daraus auch Regeln zum Handeln mit weitreichenden Folgen ableitet. Unvollständige und fehlerhafte Erkenntnisse sind besonders gefahrenträchtig, wenn sie in gesellschaftliche Normen und Verhaltensregeln einfließen. Wissenszugewinn ist notwendig, bedarf aber der Benennung der Einschränkung in den Grenzen gesicherter Erkenntnis. Hier leistet die Sicherheitswissenschaft mit der Bandbreite ihrer Fachgebiete und der übergreifenden Systematik einen wertvollen Beitrag. Die im Jahre 1978 in Wuppertal gegründete Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft e. V. verfolgt die Philosophie einer eigenständigen, in sich geschlossenen und interdisziplinär ausgerichteten Sicherheitswissenschaft. Sie fördert den fachwissenschaftlichen Austausch und die fachliche Weiterentwicklung sowie den Nachwuchs im Bereich der Sicherheitswissenschaft über Symposien und Veröffentlichungen (mehr Informationen über www.gfs-aktuell.de).

 

Die Stellungnahme als PDF-Download

 

Weiterführende Links:

Vorab publizieren, danach debattieren (Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Uni Freiburg)